Jahresbericht 2022
Liebe Mitglieder
Dank der vielen Sach- und auch Geldspenden aus der Bevölkerung konnten wir im vergangenen Jahr wieder das Leben vieler Menschen ein wenig sorgloser und bequemer machen. Insgesamt organisierten wir. 7.. Hilfstransporte mit .45. to Spendengütern, an denen 12. Fahrer beteiligt waren, einige davon fast jedes Mal. Es sei noch einmal erwähnt, dass jeder Fahrer die Kosten für Hotel und Beköstigung bislang selber getragen hat. Ab Sommer war unser neuer LKW, eine außergewöhnlich große Spende der Firma XXL Lutz-Dodenhof, im Einsatz. Initiator dieser beachtlichen Spende war der Posthausener Ortsbürgermeister Reiner Sterna, der unserem Verein sehr verbunden ist. Die jährlichen zwei Touren in die Oblast Kaliningrad wurden vorläufig gestrichen, weil ein Grenzübertritt wegen des Krieges mit der Ukraine derzeit nicht möglich ist. Sollte sich die Grenzsituation ändern und sich Vereinsmitglieder finden, die sowohl die Fahrt als auch die
komplizierte Grenzabwicklung durchführen wollen, werden wir das Thema neu aufnehmen. Bei unserem ersten Transport im März erfuhren wir, dass der Vertrag mit den Johannitern seitens des Bürgermeisters in Bartenstein nicht verlängert wurde. Die alten, bedürftigen Menschen in den verstreuten Dörfern werden durch diese Maßnahme nicht mehr mit unseren Spenden medizinisch versorgt.
Weitere Transporte folgten im April, Mai, Juli, August, Oktober und November Wir hatten kräftig die Werbetrommel geschlagen und neben den üblichen Hilfsgütern explizit um Spenden für die ukrainischen Flüchtlinge gebeten. Viele Menschen kamen unserer Bitte nach, dadurch konnten wir dem Pfarrer der ukrainischen Kirche, der in Bartenstein ca. 60 Kriegsflüchtlinge betreut, haltbare Nahrungsmittel, Bettwäsche Handtücher Decken und Artikel für die Hygiene und Bekleidung übergeben. Ein ganz besonderes Highlight war eine Spende der Hofgemeinschaft Thießen & Göse aus Marne, in Form von 1,5 to Gemüse und Kartoffeln. Viele Bürger und auch Mitglieder des Vereins spendeten Hygieneartikel, Verbandsmaterial und Medikamente, sowie Lebensmittel, die wir nach und nach auf den Transporten im Mai und Juli mitnahmen. Für die Geldspenden wurden bei einem hiesigen Discounter große Mengen Lebensmittel und Hygieneartikel eingekauft.
Im Juli erreichte uns ein Hilferuf aus Bartenstein. Es wurden dringend Kinderartikel, Bettwäsche und Handtücher für einen neu eröffneten Kindergarten benötigt. Den hatte der Pfarrer ins Leben gerufen, damit die ukrainischen Mütter sich Arbeit suchen konnten. Auch hier hat unser Spendenaufruf gefruchtet und wir konnten mit dem Juli-Transport intensiv helfen.
Mit unserem letzten Transport im November für die Sozialstation in Pelplin haben wir unsere Aktivitäten im Jahr 2022 abgeschlossen. An Bord des Busses mit Anhänger befanden sich Inko-Artikel, Bekleidung, Bettwäsche, Handtücher Decken und vieles mehr. Um die Kosten zu minimieren haben wir uns mit den Empfängern gleich hinter der Grenze verabredet und dort die gesamte Ladung in einem erneuten Kraftakt umgeladen. Dadurch sparten wir Zeit und Geld. Ein Teil unserer Hilfsgüter wird in Pelplin auch unter ukrainischen Flüchtlingen verteilt.
Die Menge der Sachspenden an den Annahme-Samstagen in Achim und Falkenberg war im ersten Halbjahr noch einträglich, obwohl sich die Geldspenden für Kraftstoff drastisch verringerten. Leider nahm die Spendenfreudigkeit im 2. Halbjahr rapide ab, vielleicht deshalb, weil inzwischen viele private Gruppen zu Spendensammlungen für die Ukraine aufgerufen haben. Auch die Einnahmen aus der Knobelbude auf dem Ottersberger Markt blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Glücklicherweise war der Weihnachtsmarkt in Fischerhude ein finanzieller Erfolg.
Um auch im kommenden Jahr unsere langjährigen Empfänger beliefern zu können bitten wir
weiter um Spenden und machen in regelmäßigen Abständen in der Presse auf unsere humanitäre Arbeit und die Annahmetermine aufmerksam. Zusätzlich wurden zwei weitere Annahmestellen für kleinere Mengen eingerichtet, nämlich bei Bernd Anlauf in Quelkhorn und bei mir in Eckstever. Mein Dank geht an alle Fahrer und das Team, das sich ständig beim Packen zur Verfügung stellte. Ein ganz herzlicher Dank geht an alle Förderer und Spender, die uns großzügig mit Sach-und Geldspenden unterstützt haben. Bitte, bleiben Sie unserem Verein weiterhin gewogen, für die Unterstützung der Menschen im Ermland benötigen wir jede Sachspende.
Verein Hilfe und Tat e.V. Günter Grajetzky
Die kleine Oma, irgendwann vom lieben Gott vergessen

Die kleine Oma heißt Stefanie Olzcanska und wohnt in einem Weiler süd-östlich von Malbork, dem ehemaligen Marienburg. Ein schmaler, unebener Wirtschaftsweg frisst sich durch Wiesen und Ackerland immer weiter, bis man sich schon fast in der Einöde glaubt. Manchmal zweigen kleinere Wege ab, wohin sie führen erkennt man nicht. Im Frühjahr fegt ein eisiger Wind über die kahlen Flächen. Im Sommer dekoriert sich diese holperige Zufahrtsstraße mit Kornblumen und feuerrotem Mohn, die ihre bunte Herrlichkeit entfalten und der tristen Gegend zu Glanz verhelfen. Goldgelbes Getreide auf den Äckern lässt auf volle Scheunen hoffen und dazwischen das Hellgrün der Wiesen, das sich sanft über kleine Hügel erstreckt. Eine zauberhafte Gegend, und dann auf einem freien Platz ein herunter gekommenes großes Gebäude mit einem kunstvoll eingemauerten Judenstern am Giebel. Vor dem Kriege hat dieses Haus bestimmt bessere Zeiten erlebt, jetzt ist es die Bleibe von mehreren Familien.
Hier wohnt Stefanie mit ihrer Tochter Giesela in einem dunklen, zugigen Verschlag unter dem Dach. Für eine Flucht war es 1945 zu spät, also blieb sie dort, heiratete einen Polen und zog Kinder groß, die nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Stefanie hat sich "ihr" Deutschland bewahrt. Obwohl sie kaum Gelegenheit hat, kann sie sich noch in ihrer Muttersprache unterhalten.
Ein Verschlag, abgeteilt von einem Heuboden ungemütlich und nicht isoliert, das ist die Wohnung der beiden Frauen. Wir haben Ende März, doch von Frühling ist hier nichts zu spüren. Auf dem Hof liegt noch Altschnee und der eisige Wind weht unter jeden Ziegel hinein in die Zimmer, die Stefanie "meine Wohnung" nennt. Ihr gesamter Luxus besteht aus einem harten Küchenstuhl vor dem winzigen eisernen Herd. Stundenlang sitzt sie in diesem einzigen heizbaren Raum am Fenster und schaut auf ihren kahlen Garten. Auf dem Bord ein Kofferradio vermittelt ihr den Kontakt zur Außenwelt. Für ärztliche Untersuchungen und Medikamente fehlt das Geld, also kuriert sie sich mit Hausmitteln und Salben. Dabei sind ihre ohnehin deformierten Beine angeschwollen und drohen zu platzen.
Als ich ihr das erste Mal begegne, bin ich schockiert. Mühsam bewegt sie sich auf ihren kranken Beinen her zu uns. Dabei stützt sie sich auf einen dicken Ast, den ihr wohl jemand vom Baum abgesägt hat. Hinter einem verrosteten Maschendraht beackert sie mit ihrer Tochter einen Garten und hier, mitten im Grünen, hat sie sich eine Laube eingerichtet. Wir laden unsere Spenden aus: Ein Fahrrad für Giesela. Endlich kann sie die weiten Wege mit dem Rad erledigen. Stefanies Augen leuchten, als sie den großen Karton mit Cornflakes sieht. Ein Luxus sondergleichen und für sie unerschwinglich. Die isst sie so gern. Zusätzlich werden noch Kartons mit Bekleidung für die Frauen ausgeladen.
Im nächsten Frühjahr ein weiterer Besuch. Wir haben einen Rollstuhl und Krücken an Bord. Stefanie ist überglücklich als Giesela ihr von dem Rollstuhl berichtet. Das Gefährt steht unten an der Treppe, doch inzwischen ist die Holztreppe für die gebrechliche Frau ein unüberwindbares Hindernis geworden.
Was für ein Leben, und dennoch ist sie glücklich und voller Dankbarkeit, als sie die vielen Bananenkartons sieht, einen kleinen Fernseher, warme Decken und wieder ihre geliebten Cornflakes. "Der liebe Gott hat mich doch nicht vergessen", philosophiert sie. Ein Augenblick der ihren tristen Tag verändert, der ihr im Moment das Gefühl gibt, nicht vergessen zu sein. Verstohlen blicken wir uns in der Küche und im Vorraum um. Man könnte so vieles verändern, menschenwürdiger, praktischer und vor allem wärmer. Wir alle entwickeln spontan Pläne, die man nur noch umsetzen müsste, doch von welchem Geld? Hier können wir von "Hilfe und Tat" nur lindern. Der Umweg von circa drei Stunden hat etwas bewirkt. Eigentlich sollten wir zufrieden mit uns und unserer Aufgabe sein, in diesem Falle bleibt jedoch immer etwas Hilflosigkeit zurück.
Hier im Westen wird so manches entsorgt, was noch verwertbar ist. Viele Wohnungen stehen leer, weil es woanders komfortablere gibt. Muss man da nicht ins Grübeln kommen? - (Ute Fetkenhauer)

"Wolfskinder" ist die Bezeichnung für deutsche Kriegswaisen, die nach 1945 auf der Suche nach einem Weiterleben in die Hände der Eroberer gerieten und später als Erwachsene unter falscher Identität leben mussten. Etwa 25.000 Kinder verloren in dieser Zweit, während der Flucht ihre Eltern und irrten ziellos durch Ostpreußen (Oblast Kaliningrad) und Litauen umher, ständig auf der Suche nach Essen und Arbeit. Nur wenige Kinder überlebten, einige hatten das Glück von litauischen und russischen Bauern aufgenommen zu werden. Oftmals wurden sie dort wie Arbeitssklaven behandelt.
Während meiner Reise nach Kaliningrad begegnete ich der 78-jährigen Elvira Syroka, einem ehemaligen Wolfskind. Sie verpasste als Halbwüchsige den letzten Transport gen Westen und musste schutzlos und ohne Heim in der Ruinenstadt unter den Russen bleiben. Inzwischen hat sie ihren Frieden gemacht mit ihrem erbärmlichen Leben und wohl auch mit ihren Peinigern, sagt sie. Einfach war es sicherlich nicht.
Die schlohweißen Haare akkurat frisiert, das Gesicht übersät mit Falten und Runzeln, blickt sie mich mit blitzenden Augen an. Ja, ihre Augen sind immer noch hellwach und strahlen Hoffnung und Zuversicht aus. Seit vielen Jahren ist sie westlich orientiert, könnte sogar in Deutschland ein bequemes Leben führen, aber sie möchte in ihrem Königsberg bleiben. "Ich will erleben, wie diese Stadt wieder so schön wird, wie sie einst war", sagt sie voller Überzeugung und in diesem Augenblick will ich es einfach glauben.
Wir sitzen in der evangelischen Kirche in Kaliningrad. Probst Heye Osterwald hält seine Predigt, die nach zwei bis drei Sätzen durch eine Dolmetscherin den russischen Gläubigen übersetzt. Ich sitze neben Elvira und plötzlich beginnt sie zu reden. Stockend flüstert sie mir ihren grauenvollen Start nach dem Umbruch zu.
Ich arbeitete, wie viele andere Jugendliche während des Krieges auf einem Gut in Litauen. Als die Eltern im Treck vor den Russen flüchteten, gab es für sie in der Eile keine Möglichkeit, mich nach Königsberg zu holen. Also flüchteten meine Eltern und Geschwister ohne mich. Als ich mit anderen Jugendlichen aus Litauen zurückkam, waren die Eltern weg, die Geschwister weg, ich wusste nicht wohin.
Wir haben geheult wie die Wölfe, weil wir hungrig waren und alle entsetzliche Angst hatten. Überall saßen die Sieger, die Russen. Wir suchten Unterschlupf in Ruinen und Kellern, doch wenn wir Hausrat und Decken gefunden hatten, jagten uns die Sowjets wieder fort. Unser Leben bestand nur noch aus Angst. Wir klauten uns irgendwo etwas zum Essen. Elfjährige Jungen mauerten die Einschusslöcher zu und wir tapezierten die Wände mit alten Zeitungen. Nur so konnten wir überleben. Viele Kinder und Jugendliche gingen zurück nach Litauen, ich bin in Königsberg geblieben. Es war doch meine Heimatstadt.
Ihre Stimme verändert sich. Sie wird hart als sie sagt: "Keiner fragt, was die Russen gemacht haben, immer sind nur die Deutschen Schuld. Ich musste mein Heimatgefühl teuer bezahlen“. Was dann folgt, kann ich nur anhören, verstehen kann ich es nicht. Mittlerweile zur jungen Frau herangewachsen, wurde sie von den Russen gequält sie bis sie ohnmächtig zu Boden sank. Dann hängten sie die leblose junge Frau an den Händen gefesselt an einen Baum. Als ihr eine Kuh mit der rauen, nassen Zunge durch das Gesicht leckte, kam sie zu sich und wollte sich aus ihrer Zwangslage befreien. Ihre Peiniger griffen erneut zu und schlugen sie viele Male mit dem Kopf gegen eine Wand. Elvira war mehr tot als lebendig, als sie in ein Massengrab geworfen wird. "Ich kam wieder zu mir und stellte fest, dass sich der gesamte Menschenhaufen bewegte", erzählte sie. Es war ein Auf und Nieder der Arme und Beine und Köpfe. Einige krochen an den Rand der Kuhle und schleppten sich irgendwo in Sicherheit. Elvira wollte es wenigstens versuchen und schaffte es bis zu einem Dickicht." Hier fand sie eine mitleidige Russin, die die geschundene Frau mit in ihre Wohnung nahm und die Wunden pflegte, so gut es ging.
Obwohl die Zeiten auch für die Russen schlimm genug waren, gab es noch Denunzianten, denen Menschlichkeit fremd war. Einige Tage später stand die Miliz vor der Tür um sie abzuholen. Die Russin war außer sich und dachte gar nicht daran, die junge Frau ihrem Schicksal zu überlassen. Sie kniff ihren kleinen Sohn so heftig, dass dieser aus Leibeskräften schrie. An der Tür erklärte sie den Häschern, dass ihr Sohn Typhus hätte. Da gingen sie, weil sie sich nicht anstecken wollten. So blieb Elvira am Leben, sie sagt mit Gottes Hilfe.
Um endlich ihren deutschen Namen abzulegen heiratete sie 1952 einen Russen, doch ihre Ehe wurde ein entsetzliches Martyrium. Ihr Ehemann vergewaltigte sie ständig und Schläge gehörten zu ihrem Alltag. Ihre einzige Freude waren ihre beiden Kinder, Yuri und Tatyana. Deutsch sprach sie nur noch mit ihrem Herrgott. Die russische Sprache brachte sie sich selbst bei und später lernte sie von ihren Kindern. Viele Jahre, bis 1970, durfte sie ihre deutsche Identität nicht preisgeben, ein einziges deutsches Wort hätte sie das Leben gekostet.
Ihre Familie in Westdeutschland ließ nichts unversucht, die Tochter und Schwester zu finden. Über das Rote Kreuz in Litauen gelang nach vielen Jahren der erste Kontakt. Elvira stellte einen Antrag auf Besuchserlaubnis, der sofort abgelehnt wurde. Sie hatte gelernt zu kämpfen, also reiste sie nach Moskau und bleib eine Woche lang vor dem Kreml sitzen. Dann endlich zeigte man Erbarmen und im Jahre 1970 konnte sie das erste Mal allein nach Deutschland fahren. Ihre beiden Kinder musste sie als lebendiges Pfand in Kaliningrad lassen. Nur der Kinder wegen kam sie damals schweren Herzens zurück.
Inzwischen ist sie viele Male in den Westen gereist und hat über die große Entfernung hinweg einen engen Kontakt zu ihren Geschwistern. Längst kommt sie freiwillig zurück, weil Königsberg ihre Heimat ist. "Ich will Ostpreußen erleben wie die Kühe grasen, die Mohrrüben wachsen, ich will die freie Stadt erleben. Ich möchte sehen, wie die Menschen hinein und herausfahren, so wie sie wollen," schwärmt sie und insgeheim wartet sie sehnsüchtig darauf, dass "ihr" Königsberg wieder eine schöne Stadt wird. Ihre Kinder sind längst erwachsen und können als Russen die Nöte ihrer Mutter nur schwer nachvollziehen.
Seit vielen Jahren hat Elvira Syroka ihr Leben in den Dienst Gottes gestellt, denn nur so findet sie Kraft für den nächsten Tag. Sie putzt und schmückt die evangelische Kirche in Kaliningrad ganz allein. "Ich muss meinem Herrgott doch zeigen, wie dankbar ich ihm bin, dass er mich am Leben ließ", sagt sie in aller Demut. In der Betreuung von tuberkulosekranken Kindern hat sie noch im hohen Alter die Erfüllung gefunden. Sie hilft wo sie nur kann. Für ein Weggehen in den wohlverdienten Ruhestand, in den Luxus des Westens ist es zu spät. "Ich kann verzeihen", erklärt sie mir, vergessen wird sie die Höllenqualen wohl niemals.
Über den Krieg und seine Verursacher hat sie ihre eigene Meinung: "Hitler war ein großer Mann, er hat allen Arbeit gegeben. Stalin hat die Menschen verachtet und vernichtet. Er hat zweimal mehr Menschen vernichtet als Hitler."
Ich mag dieser Frau nicht antworten, ihre Meinung bleibt im Raume stehen.
(Ute Fetkenhauer)
Hilfe, dort wo niemand mehr zuständig ist - Lydia Piester
Seit Jahren kümmert sich Lydia Piester gemeinsam mit ihrer Schwester Anna um Kinder, die keiner will. In dem kleinen Dorf Gratschowka, zwischen Kaliningrad und Swetlogorsk, dem früheren Rauschen, weitab von der Hauptstraße, hat sie ein Kinderheim aufgebaut. Es fehlt an allem, an Liebe allerdings fehlt es nicht. Für die Alkoholwaisen, deren Eltern sich ausschließlich mit Wodka beschäftigen und Kindern aus zerrütteten Familien, die ihre Kinder nicht mehr wollen, ist sie Mutter und Lehrerin zugleich. Die Kinder lernen bei Lydia Piester ein geordnetes Leben kennen. Sie kümmert sich um Essen und Trinken, um eine Schulausbildung und gibt ihren Schützlingen ein gutes Fundament für das spätere Leben.
Allerdings muss sie auch gegen die Machenschaften des Regimes kämpfen. Ihr erstes Domizil war gerade renoviert und menschenwürdig ausgestattet, da zwang man sie, diese Räumlichkeiten zu verlassen. Sie gab nicht auf und suchte eine neue Bleibe für ihre große Familie, die sie letztlich in Gratschowka im Dachgeschoß eines alten Hauses fand. Das alles macht sie völlig uneigennützig.
Wir hatten für sie zwei riesige Koffer mit Kleidung und anderen Hilfsgütern in der evangelischen Kirche Kaliningrad deponiert. Sie war überglücklich, dass wir an sie gedacht hatten, dennoch bereitete ihr die Spende große Sorgen. Es war ihr kaum möglich, die 17 Rubel (ca. 50 Cent) für den Bus aufzubringen. - Um ihr weniges Geld zu sparen, ging die ältere Dame den weiten Weg bis in die Stadt zu Fuß und wäre auch bereit gewesen, die schweren Koffer zurück zu tragen. Glücklicherweise ersparte ihr Kamerad Zufall den beschwerlichen Weg.
Wer würde hier im Westen so viel Mühsal auf sich nehmen?
(Ute Fetkenhauer)